Hier kommt Cilli

Stellen Sie sich vor, eine fremde Frau zieht bei Ihnen ein. Eine Frau, die 90 Jahre Leben mitbringt – aber nur Fetzen von Erinnerung daran. In einem Dorf in Bayern fand die demenzkranke Cilli ein neues Zuhause. Besuch in einer Ausnahmesituation

Erschienen in: Zeit Wissen Magazin, 1. Dezember 2013

Text2_Cilli-500Hinter der Scheibe lässt die Herbstsonne die oberfränkischen Hügel golden leuchten. Dort könnte ich jetzt schön wandern gehen, die Landschaft sieht friedlich aus. Aber hier, in diesem Haus, dringen von unten Schreie hoch: »Helft mir! Bitte! Ich kann mir doch nicht helfen. Wann helft ihr mir?« Auf der Fensterbank zappelt eine Fliege erbärmlich mit den Beinen. Sie ist auf den Rücken gefallen und schafft es nicht, sich wieder umzudrehen. Ich halte der Fliege meinen Finger hin, sie krabbelt ein Stück daran hoch, fliegt los und setzt sich auf die Scheibe. Der Frau, die im Erdgeschoss um Hilfe ruft, kann ich nicht helfen. Noch ein Blick auf die Hügel, dann traue ich mich nach unten.

Als Irmgard Zellner-Hönl und ich das Esszimmer betreten, verstummt die alte Dame, sieht mich interessiert an, reicht mir die Hand und stellt sich höflich vor. Cilli heißt sie, gesprochen Zilli, das kommt von Cäcilia. Im Rollstuhl sitzt sie am Tisch, so, dass sie einen guten Blick auf den Hang und die Apfelbäume im Garten hat. Es gibt Kaffee und frisch gebackene Waffeln, die schon in einzelne Herzen zerteilt sind. Cilli isst ein Waffelherz, dann noch eines. »Gut«, kommentiert sie knapp. »Sie hat viel Appetit«, sagt die Gastgeberin. Doch auf einmal verändert sich der Gesichtsausdruck der alten Dame. Die Falten an der Stirn und neben dem Mund werden zu tiefen Furchen, mit weit aufgerissenen Augen sieht sie erst mich an, dann die Gastgeberin, dann schreit sie wieder: »Helft mir!«

»Sie hat unterschiedliche Phasen«, erklärt Zellner-Hönl. »Manchmal ist sie in ihrer Kindheit, manchmal auf der Flucht und manchmal in ihrem Arbeitsleben.« Zurzeit sei sie auf der Flucht, die schlimmste Phase. Erstaunlich ist, was Zellner-Hönl jetzt nicht tut. Sie tätschelt nicht Cillis Hand, redet ihr nicht gut zu, sagt keine verlogenen Sätze wie: »Das wird schon wieder.« Sie gießt sich Kaffee ein und sagt beiläufig: »Ja, wobei soll ich dir denn helfen?« Cilli sieht sie irritiert an und sagt: »Ich weiß es nicht.« Der Schrecken ist erst mal weg.

Irmgard Zellner-Hönl hat Cilli vor drei Jahren bei sich aufgenommen und lebt seitdem mit ihr in dieser ungewöhnlichen WG zusammen. Dabei ist sie nicht mit der alten Dame verwandt, bei der ersten Begegnung vor drei Jahren war sie eine Fremde, und richtig kennenlernen wird sie Cilli nie. Cilli ist schwer an Demenz erkrankt und kennt sich selbst nicht mehr.

»Betreutes Wohnen in Familien« nennt sich das Konzept, bei dem psychisch Kranke, Behinderte und seit Neuerem auch demenzkranke, alte Menschen in Gastfamilien einziehen. Die Betreuer haben dabei nicht die Aufgabe, ihre Gäste zu therapieren, sondern ihnen ein Leben mit einem einigermaßen gewöhnlichen Alltag zu ermöglichen, damit sie nicht von der Gesellschaft abgeschottet leben müssen. Ein Sozialdienst vermittelt Patient und Gastfamilie und bleibt Ansprechpartner für beide.

»Demenzkranke empfinden Heime oft als unübersichtlich und können sich nur schwer merken, wer wer ist. Schon deshalb kommen sie in den Gastfamilien meist besser zurecht«, sagt Paul-Otto Schmidt-Michel, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Weissenau, der maßgeblich dazu beigetragen hat, Betreutes Wohnen in Familien in Deutschland zu etablieren. Für eine Gastfamilie könne es leichter sein, einen Demenzkranken zu versorgen als für dessen Sohn oder Tochter. »Es ist oft schwer auszuhalten, wenn man jemanden seit 60 Jahren kennt, derjenige aber nicht mehr der Alte ist.« Außenstehende haben da oft mehr Abstand.

»Jetzt links und dann noch mal links«, ruft Irmgard Zellner-Hönl. »Und heb die Füße.« Sie hat Cilli aus dem Rollstuhl hochgeholfen, mit dem Rollator schafft sie den Weg ins Bad allein. Cilli vergisst nur jedes Mal, wo es ist. Deshalb sagt ihre Gastgeberin es ihr immer wieder, jeden Tag, seit drei Jahren. Sie weiß, dass Cilli für den Weg eine Weile braucht, deshalb räumt sie in Ruhe die Teller ab und bringt sie in die Küche. Erst im Bad selbst braucht Cilli wieder Hilfe.

Schon lange kümmert sich Zellner- Hönl um andere: Als Familienpflegerin betreute sie Kinder, wenn die Eltern dies nicht mehr selbst tun konnten, etwa wegen einer Krankheit. Danach half sie in einem Altenheim, nebenher zog sie ihre Kinder groß, pflegte zuerst die Oma, dann die Mutter. In ihrem Haus in Geroldsgrün nahe Hof hat sie eine Pension eingerichtet, das Gästehaus Adelheid. Platz ist genug da, früher lebten hier vier Generationen zusammen.

Bevor Cilli kam, hatte es Irmgard Zellner- Hönl schon mit anderen Dauergästen versucht, aber es passte nie richtig. Mit Cilli passte es. Das merkte Zellner-Hönl bereits bei der ersten Begegnung, obwohl die alte Dame schon damals dement war und nicht viel Persönliches von sich erzählen konnte.

Sie erfuhr nur ein paar Daten, auf die ihr langes Leben geschrumpft war: Cilli ist 92 Jahre alt, arbeitete früher in einer Teppichfabrik, war einmal verheiratet, ihr Mann starb früh, danach lebte sie alleine. Vielleicht stimmte es zwischen den beiden, weil sie so viel gemeinsam haben.

Beide mögen Puppen. Als Irmgard Zellner-Hönl Cilli vor drei Jahren in deren eigener Wohnung besuchte, fielen ihr gleich die vielen Puppen auf, die Cilli ordentlich nebeneinander auf das Sofa gesetzt hatte. Sie selbst besitzt auch einige. Als Kind hatte sie sich immer eine gewünscht – vergeblich. In den Nachkriegsjahren waren ihre Eltern zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Familie einfach nur satt zu bekommen.

Beide flüchteten am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westen, Cilli aus Oberschlesien, Irmgard Zellner-Hönl aus dem polnischen Sorau. Cilli war damals Mitte zwanzig und erlebte auf der Flucht wohl Furchtbares. Was genau, weiß nicht einmal Cillis Neffe, ihr rechtlicher Betreuer. In der Familie wurde nie darüber gesprochen. Zellner-Hönl selbst war erst ein Jahr alt, als ihre Mutter mit ihr floh. Ist es möglich, dass die Schrecken der Vertreibung in diesem Haus noch lebendig sind, mehr als sechzig Jahre danach? Bei einer Demenz erkrankt das Gehirn, sodass das Gedächtnis, das räumliche Orientierungsvermögen, die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten nachlassen. Dadurch verändern sich die Persönlichkeit und das Verhalten eines Menschen. Was die Betroffenen zuletzt erlebt oder gelernt haben, vergessen sie zuerst. So verliert die Gegenwart ihre Bedeutung, die jüngsten Jahrzehnte verblassen, Fragmente der Vergangenheit werden zur Gegenwart. Verwandte zu erkennen wird im fortgeschrittenen Stadium immer schwieriger, da die vergangenen vierzig, fünfzig Jahre fehlen – wie soll ein erwachsener Mann der Sohn sein, wenn man ihn doch als Kind in Erinnerung hat?

Für die Patienten wird es immer schwieriger, sich an einzelne Ereignisse zu erinnern. Das autobiografische Gedächtnis funktioniert mithilfe des Hippocampus, und dieses Hirnareal wird durch die Krankheit früh beeinträchtigt. Die eigene Biografie gerät durcheinander und damit auch die Identität. Das semantische Gedächtnis dagegen, in dem Fakten gespeichert sind, bleibt länger erhalten. So kann Cilli in klaren Momenten zwar keine Geschichten, aber Tatsachen aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen: Zu Hause in Oberschlesien arbeitete sie in der Landwirtschaft, der Raps pikste bei der Ernte, zu Hause sprachen sie deutsch und polnisch. Auch Rituale sind ihr noch vertraut: Wenn der Pfarrer vorbeikommt und eine Andacht hält, streckt sie im richtigen Moment die Zunge heraus, um die Hostie zu empfangen.

Was also geht in Cilli vor, wenn sie um Hilfe ruft, dabei polnisch spricht und den Namen ihres Bruders sagt, der früh starb? Erlebt sie dann die Flucht noch einmal? »Dass sie die traumatischen Erlebnisse direkt reflektiert, ist sehr unwahrscheinlich, weil ein Patient mit fortgeschrittener Demenz diese nicht mehr rekonstruieren kann«, sagt Johannes Schröder, Professor für Gerontopsychiatrie am Uni-Klinikum Heidelberg. »Denkbar wäre ein rein gefühlsmäßiger Widerhall, aber auch dies ist unwahrscheinlich.« Oft seien Patienten einfach völlig desorientiert in Raum und Zeit, das allein könne den Schrecken verursachen. Aber was wirklich in Cilli vorgeht: Wer weiß das schon?

Irmgard Zellner-Hönl nahm die Puppen mit, als Cilli zu ihr zog. Die neue Mitbewohnerin sollte sich wie daheim fühlen. Damals, als sie sich selbst bereits verlor, hatte Cilli noch einen Bezug zu den Puppen. Dann verging auch der. Jetzt sitzen einige Puppen in ihrem Schlafzimmer auf dem Sofa gegenüber dem Pflegebett, vier weitere in einem antiken Puppenwagen im Esszimmer, in dem die alte Dame den größten Teil des Tages verbringt. Mit ihren immer geöffneten Augen sehen die Puppen sie an, aber Cilli erwidert ihre Blicke nicht mehr.

Am Anfang fühlte sich Cilli nicht wie zu Hause, daran änderten auch die Puppen nichts. »Ich will heim«, klagte sie. In den Nächten bekam sie so große Angst, dass sie nicht nur schrie, sondern sich auch das Nachthemd zerriss. Medikamente halfen nicht. Manchmal wurde Cilli so zornig, dass sie Irmgard Zellner-Hönl schlug. Die blieb geduldig und sagte: »Aber du bist doch daheim.« Sie kümmerte sich rund um die Uhr um Cilli, nachts schlief sie manchmal nur zwei Stunden lang. Das Babyfon schaltet sie immer noch jeden Abend ein.

Demenzkranke interpretieren Sinneseindrücke oft unerwartet. Selbst liebevolle Berührungen empfinden manche als unangenehm oder sogar schmerzhaft, einige erleben Halluzinationen. Mit anderen in Kontakt zu treten ist für die Patienten auch deshalb so schwierig, weil sie sich meist nicht als verwirrt in einer logisch strukturierten Welt wahrnehmen, sondern als klar in einem Umfeld, das aus den Fugen gerät.

Man kann nachvollziehen, warum viele Demenzkranke aggressiv werden: Wer überhaupt nicht mehr weiß, wie ihm geschieht, wer dazu gezwungen wird, sich in ein fremdes Bett zu legen oder sich von Unbekannten waschen zu lassen, muss sich wehren.

Wenn Irmgard Zellner-Hönl von der schwierigen Anfangszeit erzählt, wird die große Frage noch größer: Warum macht sie das? Warum tut sie sich das an? Das Geld kann es nicht sein. Sie bekommt gut tausend Euro im Monat, mehrere Hundert Euro davon gibt sie allein für Lebensmittel aus. »Nachdem meine Mutter vor vier Jahren gestorben ist, bin ich in ein tiefes Loch gefallen«, antwortet Zellner-Hönl. Da suchte sie nach einer neuen Aufgabe, und andere Menschen zu umsorgen, das lag ihr schließlich.

Auch wenn das nicht immer so war. »Wenn mir das jemand vor dreißig Jahren gesagt hätte, hätte ich dem gesagt, er hat einen Knall. Bei dem Gedanken, jemanden zu pflegen, wäre mir schlecht geworden.« Damals war sie anders, immer schick gekleidet und geschminkt, »aufgebrezelt halt«, sagt sie und rollt das r dabei fränkisch weich. Dann, vor etwa zwanzig Jahren, musste sie sich einer eigentlich harmlosen Operation unterziehen. Die Ärzte machten einen Fehler, fast wäre sie gestorben. Aber sie wachte wieder auf. »Da ist mir klar geworden, worum es wirklich geht im Leben.« Sie begann, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, sich um andere zu kümmern. Der Glaube hatte immer schon eine wichtige Rolle für sie gespielt, Irmgard Zellner-Hönl ist katholisch. Doch so richtig Sinn machte alles erst, als Cilli kam. »Da habe ich verstanden, dass das hier nicht nur eine Aufgabe ist, sondern eine Berufung. Gott hat mich überleben lassen, damit ich das tun kann.« Heute trägt sie die grauen Haare ganz kurz geschnitten. Pulli, Hose, an den Füßen praktische lila Clogs aus Gummi.

Inzwischen ist Cillis Betreuung für sie Routine. Jeden Morgen wäscht eine Krankenschwester die alte Dame. Wenn Irmgard Zellner-Hönl für ein paar Stunden das Haus verlassen will, kommt eine mobile Betreuerin. Wenn Cilli aus dem Rollstuhl gefallen ist, heben Mitarbeiter vom Pflegedienst sie wieder auf. Um sich kleine Freiräume zu schaffen, hat Zellner-Hönl sich Tricks ausgedacht. Dann stellt sie Cilli eine Schüssel Obst hin und legt Heino auf, um sich in Ruhe um die Gästezimmer kümmern oder eine Stunde spazieren gehen zu können. Im Wald hinter dem Haus sammelt sie Brennholz für den Ofen. »Die Zweige zu brechen tut mir gut, da kann ich mich abreagieren, wenn ich mal wütend bin.« Oder sie wandert zu den Zwölf Aposteln. So heißen die schweren Steine in der Nähe, denen manche einen mystischen Ursprung nachsagen. Abends bringt sie Cilli um sechs Uhr ins Bett, dienstags geht sie zur Chorprobe.

Ich lerne, dass Cillis verzweifelter Gesichtsausdruck nicht immer Verzweiflung bedeutet. »Wie soll ich das denn trinken?«, schluchzt sie und blickt auf ihre Teetasse, die sie bereits halb ausgetrunken hat. Ihr Gesicht ist genauso verzerrt wie eben, als sie um Hilfe rief. »Jetzt hör fei auf, in die Hand nehmen und trinken halt«, sagt Zellner- Hönl resolut. Die alte Dame tut es. »Wenn Besuch da ist, jammert sie besonders viel. Dann darf man sie auf keinen Fall betüteln, sonst verfällt sie in ihre wehleidige Phase«, sagt die Gastgeberin. Ein anderes Mal geht es um ein verlegtes Taschentuch. Wieder Schluchzen. »Schau mal im Ärmel.« Cilli zieht gleich mehrere Taschentücher heraus und grinst. »Da musst du selbst lachen, oder?«, sagt Zellner-Hönl und lacht mit.

Die Stimmung wechselt von Moment zu Moment. »Ich hab was vergessen«, ruft Cilli. »Was habe ich denn vergessen?« Sie sieht mich eindringlich an und streckt mir die Arme entgegen, ihre Hände zittern. Ich halte den Blick nicht aus, sehe weg, aber da sind die verdammten Puppen und glotzen mich mit aufgerissenen Augen an. Cilli sagt den Text des Kinderlieds Ein Männlein steht im Walde auf. Noch einmal von vorn. Und noch einmal. »Das da steht im Wald allein mit dem purpurroten Mäntelein.« Sie fragt: »Ist das richtig so?«  – »Ja, das ist richtig so.« Dann sagt sie den Satz, der am schlimmsten ist: »An das, was man nicht wissen muss, kann man sich am längsten erinnern.« Sie weiß, was mit ihr los ist. Sie weiß es. »Du hast was vergessen? Macht doch nichts, dann holen wir das halt noch«, sagt Irmgard Zellner-Hönl ruhig und bestimmt.

Nein, beklemmend seien solche Situationen nicht, sagt sie. »Manchmal nehme ich ihr Geschrei gar nicht mehr wahr.« Aber sie hat sehr wohl ein Gespür dafür, was Cilli durchmacht. »Diese Krankheit ist das Schlimmste, was es gibt«, sagt sie später, als Cilli es nicht hören kann. Nach ihrer missglückten Operation hatte sie selbst einige Wochen lang Gedächtnisstörungen, ständig vergaß sie alles. So kann sie sich ein wenig in Cilli hineinversetzen. Die Gelassenheit ist auch ein Mittel zum Zweck, um es Cilli und ihr selbst so leicht wie möglich zu machen.

Die Stimmungen Demenzkranker lassen sich beeinflussen. Eine Musiktherapie etwa ermöglicht es ihnen, Gefühle auszudrücken, auch wenn sie diese nicht mehr in Worte fassen können. Auf viele wirkt Musik emotional ausgleichend. Zellner-Hönl wusste das nicht, sie hatte einfach eines Tages die Idee, das Keyboard, auf dem früher ihre Mutter und ihre Kinder gespielt hatten, vom Speicher zu holen und sich selbst das Spielen beizubringen.

Schon nach den ersten Tönen stimmt Cilli ein. »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« Die Hände hat sie ineinander gefaltet. Abends zu singen und dann zu beten ist bei den beiden ein Ritual. Das Keyboard steht im Esszimmer, gleich neben dem Puppenwagen.

Auch Cilli ist katholisch, auch sie hat einmal in einem Chor gesungen. Die Texte der Kirchenlieder und Volkslieder kennt sie noch auswendig. Solange die beiden singen, sind sie nicht Patientin und Betreuerin, sondern zwei Frauen mit kräftigen, geübten Stimmen.

Das Gebet endet mit der Zeile: »Auf dass wir vor keinem Grauen der Nacht uns fürchten.« Aber als Cilli im Bett liegt, kommt das Grauen doch. Sie schreit, sie wimmert. Sie brüllt, Laute von ganz tief innen. Nicht durchgehend, aber immer wieder, stundenlang. In meinem Gästebett höre ich sie lange, es ist zu beklemmend, um zu schlafen. Ist es sie, die da schreit? Oder ist es etwas in ihr?

Am nächsten Morgen sitzt Cilli bereits beim Frühstück, die weichen, weißen Haare frisch gekämmt, der Seitenscheitel sauber gezogen. Auf ihre Haare legt sie Wert, ob die silbernen Spangen richtig sitzen, prüft sie regelmäßig. Ihre Gesichtszüge sehen entspannt aus. Auf meine Frage: »Haben Sie gut geschlafen?«, antwortet sie entgeistert: »Ja, warum?« Ihre Welt besteht nur aus einzelnen Momenten, guten und schlechten. Sie alle verschwinden spurlos.

Stefan Pawlik erinnert sich noch daran, wie er seine Tante Cilli vor gut drei Jahren erlebte, bevor sie bei Irmgard Zellner-Hönl einzog. »Wenn ich sie besucht habe, dachte ich immer, oft werde ich sie nicht mehr sehen«, erzählt er. Einmal, als sie im Krankenhaus lag, kam schon der Pfarrer und nahm ihr die letzte Beichte ab. »Bei der Frau Zellner-Hönl ist sie richtig aufgeblüht, selbst ihre Haut ist weicher und straffer geworden.« In ihrem Leben war sie oft allein, deshalb genieße sie jetzt die Gemeinschaft, glaubt Pawlik. »Ohne die Frau Zellner-Hönl wäre meine Tante schon lange nicht mehr.«

Etwas ist heute anders. Cilli beobachtet im Garten die Vögel und die Eichhörnchen. Das Reh, das morgens oft kommt, um Fallobst zu essen, war heute noch nicht da. »Da fliegt er wieder«, ruft Cilli und zeigt auf einen Vogel, mit einem Staunen, zu dem sonst nur Kinder fähig sind. Als ihre Gastgeberin auf der Terrasse in die Hände klatscht, um die Elster zu verscheuchen, sieht sie ihr so aufmerksam und neugierig zu, als würde sie das zum ersten Mal erleben. Wer alles vergisst, kann auch alles neu entdecken. Die Krankheit von ihrer besten Seite. Selbst die Puppen sehen heute freundlich aus.

 

 


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Artikel auf ZEIT ONLINE
Text: Susanne Schäfer
Foto: Monika Höfler, www.monikahoefler.com