Wurzeln, Nüsse, Beeren satt

Die jüngste Ernährungsmode heißt Paläo – essen wie die Steinzeitmenschen. Statt Käsebrot gibt es Gejagtes und Gesammeltes. Schließlich wussten die Vorfahren am besten, was gut für uns ist. Oder?

Erschienen in: DIE ZEIT, 29. Januar 2015

 

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Gunter hat abgenommen, Jutta schönere Haut bekommen, Jonas wird nie mehr krank, und Larissa ist jetzt fast jeden Tag gut gelaunt. Sie alle leben nach der Steinzeitdiät und haben seit der Ernährungsumstellung wundersame Wandlungen erfahren. Im Onlineforum Paleo360.de findet man diese und andere euphorische Berichte von Steinzeitjüngern. Wo immer Anhänger der Ernährungsform von ihren Erfahrungen erzählen, erfährt man Unglaubliches: Mal wurden die Paläo-Esser von Krankheiten geheilt, mal lichtete sich ihr “Hirnnebel”, und sie sahen plötzlich viel klarer als zuvor.

Die Vertreter der Paläo-Kost orientieren sich an der Steinzeit, an den Anfängen der Menschheit, weil damals das Essen noch ursprünglich war. Ihr Credo: Jäger und Sammler machen uns vor, wie menschliche Ernährung eigentlich geht. Statt Käsebrot gab es frisch erlegtes Tier mit selbst gepflückten Nüssen und Beeren. In kalifornischen Supermärkten werden schon ganze Salatbars mit dem Begriff “Paläo” gekennzeichnet.

Auch in Deutschland hat die Mode ihre Anhänger: Allein für das erste Halbjahr 2015 sind ein gutes Dutzend neuer Ratgeber angekündigt, Paleo-Power für Frauen oder Die Paleo-Revolution. Rezeptfolianten versuchen, uns Paleo Smoothies oder geschmortes Sauerkraut mit Aprikosen schmackhaft zu machen. Oder sie raten, den Pizzateig nicht mehr mit Mehl zuzubereiten, sondern mit zerhäckseltem Blumenkohl, Kokosmehl und Ei.

Bei Edeka hat man sich tatsächlich über den Möhrenkonsum im Paläolithikum kundig gemacht. “Schon in der Steinzeit schätzte man das Gemüse als sehr nahrhaft”, heißt es auf der Internetseite des Lebensmittelkonzerns. Und in Berlin kocht das Restaurant Sauvage für Freunde von Höhlenkost. Das bedeutet, dass vieles nicht gekocht wird. Und vor allem: Man verwendet kein Gluten, auch sonst kein Getreide, keine Milchprodukte, nicht einmal pflanzliche Öle. Stattdessen gibt es “Natur pur, so wie es der Mensch schon seit Millionen Jahren macht”. Serviert werden Steaks (nicht zwangsläufig roh), Süßkartoffel-Gnocchi und Maniok-Brot. Nun hat der Betreiber wegen der großen Nachfrage ein zweites Lokal in Berlin eröffnet.

Paläo-Diät sei die artgerechte Ernährung des Menschen, behaupten diverse Gurus der Lebensform. Demnach besteht die optimale Verpflegung ausschließlich aus dem, was unsere Vorfahren zu Urzeiten zu sich nahmen: Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Samen und Nüsse. Schließlich habe der Urmensch sich mehr als zwei Millionen Jahre lang nur so ernährt. Milch- und Getreideprodukte, Speiseöle und Salz verzehre er dagegen erst seit etwa 10.000 Jahren – seit die Menschen sesshaft wurden, Ackerbau und Viehzucht erfanden. Dieser Zeitraum sei zu kurz, um sich genetisch an die neuen Produkte anzupassen, argumentieren die modernen Urmenschen. Und folgern: Gib deinen altsteinzeitlichen Genen altsteinzeitliche Nahrung, denn darauf sind sie programmiert.

“Diese Geschichte klingt erst einmal sehr plausibel, und in Kombination mit den Berichten von Menschen, die sich seit der Ernährungsumstellung fühlen wie im siebten Himmel, wird sie fast unschlagbar”, sagt Alexander Ströhle, der an der Leibniz Universität Hannover zu Ernährungsphysiologie und Humanernährung forscht und viel über die Paläo-Kulinarik und deren Irrtümer publiziert hat. Denn bei näherer Betrachtung ist die Geschichte von der artgerechten Ernährung des Menschen eben doch nicht unschlagbar.

“Man bekommt leicht den Eindruck, die Autoren von Paläo-Ratgebern seien damals dabei gewesen – so detailliert sind die Daten”, sagt Ströhle. Dabei könnten Werkzeugfunde, Knochenanalysen und die Zahnstruktur nur vage Hinweise auf die Speisenauswahl der Jäger und Sammler liefern. “In der mehr als zwei Millionen Jahre langen Epoche der Altsteinzeit schwankten Temperatur und Klima deutlich, Flora und Fauna änderten sich fundamental”, sagt der Forscher. “Entsprechend dürfte zeitlich und geografisch stark variiert haben, welche Nahrungsmittel zur Verfügung standen.”

In unserer Fantasie ging es bei den Vorfahren wunderbar natürlich zu – wenn wir uns ausmalen, wie das Steinzeitmädchen im Fellrock über Sommerwiesen streift, wilde Beeren von den Sträuchern pflückt und gegen den kleinen Hunger zwischendurch ein Nüsschen knuspert, bevor es abends mit anderen edlen Wilden am Lagerfeuer Mammutsteaks grillt. In Wirklichkeit kaute es wohl auch Käfer, Schnecken und zu sehr frühen Zeiten Aas.

Wie romantisch und genussvoll sich viele das kulinarische Leben des Jägers und Sammlers vorstellen, darüber wundert sich Marlene Zuk, Evolutionsbiologin an der University of Minnesota und Autorin des Buchs Paleofantasy. Eine Avocado sei damals ein Trumm von Stein mit einer dünnen Schicht Fleisch und einer dicken Schale gewesen. Praktisch alle Nahrungsmittel hätten sich im Lauf der Zeit stark verändert. “In Wirklichkeit essen wir nicht, was unsere Vorfahren aßen, vielleicht weil wir es gar nicht wollen und auch nicht können.” Hört man, was Testesser von wilden Äpfeln berichten, muss man dem Steinzeitobst nicht nachtrauern: Es sei, als beiße man in eine breiige Paranuss mit einem Lederüberzug, die kurz nach Apfel und dann lange bitter schmeckt, schrieb ein Journalist der New York Times, nachdem er einen rekultivierten Wildapfel des United States Agriculture Departments gekostet hatte.

Es sei ja nicht das Ziel, die Steinzeit im Detail nachzuspielen, entgegnen Vertreter der Ernährungslehre. Ihnen geht es ums Grundsätzliche: Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrachten sie als Folge unserer nicht mehr artgerechten Nahrung. Als Beleg für ihre These ziehen sie oft heutige Naturvölker heran, bei denen diese Erkrankungen kaum vorkommen. Auch der Steinzeitmensch hatte vermutlich keinen Typ-2-Diabetes. Nur, woran liegt das?

Nicht alle zeitgenössischen indigenen Völker ernähren sich steinzeitlich von Fleisch und Gemüse. Die Tarahumara in Mexiko leben als traditionelle Ackerbauern und nehmen viel Getreide zu sich, die Massai in Ostafrika und die Turkana-Nomaden in Kenia trinken viel Milch von Kamelen und Zeburindern. Folgt man dem Argument der Paläo-Esser, müssten diese Völker anfälliger für Zivilisationskrankheiten sein als solche, die Getreide und Milch verschmähen. Das trifft nicht zu, Zivilisationskrankheiten sind in all diesen Ethnien selten.

Nun war es in der Steinzeit nicht so, dass man sich eine Ladung Wildschweinkeulen liefern ließ und dann losschlemmte. Das tägliche Leben bedeutete wie bei vielen heutigen Ethnien harte körperliche Arbeit. Ein Tier zu jagen dauerte oft mehrere Tage. Kaum war es aufgegessen, musste man wieder auf die Pirsch. Bei einem solchen knochenharten Alltag führt höchstwahrscheinlich kein Ernährungsstil zu Typ-2-Diabetes. Dass heutige Ethnien genauso wenig daran leiden, ist demnach nicht auf den Konsum spezifischer Nahrungsmittel zurückzuführen, sondern vor allem auf die Bewegung und die eher knappe Energiezufuhr.

Auch epidemiologische Untersuchungen geben keinen Anlass zu der Vermutung, dass Getreide generell schädlich ist. Im Gegenteil: Sie bestätigen, dass Menschen langfristig unter anderem ein besonders geringes Risiko für Typ-2-Diabetes haben, wenn sie viel Vollkorn zu sich nehmen. Dieser Befund spricht dagegen, dass Getreide gegen unsere “genetische Programmierung” verstößt.

Auch die evolutionstheoretische Herleitung für die Getreide- und Milchabstinenz überzeugt nicht. Ein zentrales Argument der Paläo-Esser lautet: Die genetische Anpassung durch Selektion laufe nicht so schnell ab, dass wir Milch gut verdauen könnten.

Tatsächlich widerlegt aber gerade das Beispiel Milch die Argumentation. Ursprünglich konnte der Mensch genetisch bedingt nur in den ersten Lebensjahren Milchzucker verdauen, was für ein Säugetier wichtig ist. Nach dem Abstillen verlor er diese Fähigkeit. Erst als man begann, Kühe zu halten und zu melken, änderte sich die Situation: Nun hatte einen enormen Überlebensvorteil, wer Milch auch als Erwachsener vertrug. Er konnte schnell viel Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate aufnehmen. So verbreitete sich innerhalb relativ weniger Generationen eine zuvor bedeutungslose genetische Mutation, die es ermöglichte, das Enzym Laktase zu produzieren. Dieses spaltet den Milchzucker und macht ihn verdaulich.

Vor allem in Gegenden, in denen viel Viehzucht betrieben wurde, setzte sich die Laktosetoleranz durch. Diese Entwicklung dauerte nur etwa 5.000 Jahre, hier liefen evolutionäre Prozesse also schnell ab. In Deutschland vertragen heute etwa 85 Prozent der Bevölkerung Laktose. In vielen Gegenden Asiens sind dagegen noch fast alle Menschen laktoseintolerant. Milch zu trinken ist also keineswegs unnatürlich. Wer die genetische Variante hat, verträgt Laktose – und wer nicht, der nicht.

Auch seit es Getreideanbau gibt, haben sich die Gene des Menschen verändert. Wir Heutigen tragen statt einem bis zu zwölf Amylase-Gene in unserem Erbgut – und produzieren daher viel mehr dieses stärkespaltenden Enzyms in den Speicheldrüsen. Wir können daher Mehlprodukte – Pasta und Pizza – viel besser verdauen, als dies unseren Altvorderen gelungen wäre.

Als sich der sesshaft gewordene Mensch mit Getreide und Milch vollzustopfen begann, war dies aus Sicht der Paläo-Esser der Anfang vom Ende. In Wirklichkeit brachten die Bauern etwa viermal so viele Kinder durch wie die Jäger und Sammler. Das verlieh ihnen einen hohen Status: Menschen aus nicht sesshaften Gruppen bemühten sich, in die feine Gesellschaft der Ackersleute einzuheiraten, wie Joachim Burger, Professor für Anthropologie an der Universität Mainz, herausgefunden hat. Die prähistorischen Jäger und Sammler selbst waren also offenbar gar nicht so begeistert von ihrem Dasein wie die heutigen Paläo-Romantiker. Getreide und Milch waren damals kein Teufelszeug, sondern hoch begehrt. “Von den physiologischen Voraussetzungen her können wir unsere heutige Nahrung durchaus verdauen, auch Kohlenhydrate”, sagt Burger. “Nicht unsere Nahrung ist das Problem, sondern unser Verhalten.” Das heißt: Wir essen zu viel und zu einseitig und bewegen uns zu wenig, ganz einfach.

Trotzdem ist die Geschichte vom ursprünglichen Leben verführerisch. Denn die Feststellung, dass wir zu viel am Schreibtisch sitzen und zu viele Kekse knabbern, mündet bei vielen in übergroße Sorge: Wir seien in unserer überzivilisierten Welt völlig degeneriert, versaut von Technik, hätten den Bezug zu den Wurzeln verloren. Das Natürliche ist besser als das Künstliche, alt ist besser als neu – so sehnt man sich zurück in die kulinarische Vergangenheit und landet in der Steinzeit und bei den Heilsversprechen der Paläo-Diät.

Bleibt die Frage, warum sich die modernen Paläolithiker wirklich so gesund, glücklich, schön und klar im Kopf fühlen. Wie gesund die Steinzeitdiät ist, hängt davon ab, wie man das Konzept interpretiert. Wer Brot, Nudeln und Käse weglässt, dafür mengenweise Schweinshaxen, Salami und Koteletts isst, wird kaum eine wundersame Wandlung des Körpers erfahren. Wer dagegen viel Gemüse isst, verziert mit Nüssen, dazu hin und wieder mageres Wildfleisch, der lebt ziemlich gesund. Nur – das ist keine neue Erkenntnis, sie stimmt mit den gängigen Ernährungsempfehlungen überein.

Mancher Effekt ist schlicht damit zu erklären, dass ernsthafte Paläo-Esser auch ihren Alltag umstellen: Outdoor-Sport, kein Alkohol, viel Schlaf (idealerweise im Paläo-Rhythmus ab Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung).

Die uralte Weisheit, als Revolution gefeiert, lautet also: Iss Gemüse, beweg dich, geh raus, sauf nicht, schlafe viel. Ein Hoch auf die Steinzeit.

 


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Artikel auf ZEIT ONLINE
Text: Susanne Schäfer
Foto: Thomas K. / photocase.com